Viele Zen-Neulinge kommen zu einem Zen-Einführungsseminar, weil sie einen Ausgleich zur Hektik der Arbeitswelt suchen. Sie versprechen sich von der Zen Meditation Entspannung und Erlösung von ihrem inneren Stress. Und sie träumen von Gelassenheit und innerer Stille. Dann sitzen sie in dem Seminar (im Zen Sesshin genannt) in einer Reihe mit anderen dunkel gekleideten Menschen.

Warum ist die Form in der Zen Meditation so wichtig?
Das Leben spielt sich für viele von uns zwischen zwei Extremen ab. Auf der einen Seite steht das Strukturierte, Geordnete, das uns Kontrolle und Übersicht erlaubt, und auf der anderen Seite das Spontane, Chaotische, das Entwicklungsschritte ermöglicht und uns das Gefühl des Lebendigseins vermittelt. Das Strukturierte, Geordnete ist bei vielen Menschen negativ besetzt. Es erinnert an enge Zeiten, an Gehorsam, Militarismus und ‚alle über den gleichen Kamm scheren‘. Die ‚Form‘ stößt daher zunächst einmal bei Zen-Einsteigern auf große Skepsis.
In einem Sesshin, einer mehrtägigen Zen-Übungsperiode, ist alles Übung. In jedem Moment des Tages bleiben die Teilnehmer im Gewahrsein des Moments. Die Form hilft ihnen zu erkennen, wann sie abdriften, denn dann sind sie nicht ‚in der Form‘. Immer öfter gelingt es ihnen im Laufe eines Sesshins, bewusst jeden Moment in der Form zu bleiben. So wie ein Slalomfahrer viele Tausende Male den Hang gleich hinunterfährt und so seine ideale ‚Form‘ findet, so unterstützt uns die Zen-Form dabei, uns immer mehr auf unseren Körper zu verlassen. Tausendmal das Zendo betreten, verbeugen und die Matten entlanggehen – und jede Zelle lernt dabei, die Bewegung mit 100% Bewusstheit zu vollziehen. In diesem Prozess bleibt die Form nicht das Extrem des Strukturierten, Geordneten, sondern in der Form verbindet sich das Strukturierte mit dem Lebendigen, der Geist mit dem Körper, der Wille mit der Absichtslosigkeit. Die zwei vermeintlichen Extreme werden eins, die Form füllt sich mit Leben. Die Form in der Zen Meditation hat drei Aspekte, durch die sie unsere Zen-Übung unterstützt.
Konzentration
In der Zen-Meditation geht es um wache Konzentration. Die richtige Haltung beim Sitzen und das Verhalten im und außerhalb des Zendo unterstützen genau diese Konzentration. Es ist nicht egal, wie wir sitzen. In Mentaltrainings oder geführten Meditationen heißt es oft: „Setzen Sie sich bequem hin, lockern Sie Ihren Gürtel und schließen Sie Ihre Augen.“ Das ist die beste Voraussetzung, um in das Wolkenkuckucksheim zu driften und vor sich hin zu dösen. Die gerade Körperhaltung mit dem Schwerpunkt in der Mitte, dem unteren Bauch, fördert die Wachheit und Konzentration. Sie ermöglicht es, viele Stunden bewegungslos zu sitzen und dadurch in eine tiefe Versenkung zu kommen.
Die Körperhaltung ist mit einer Gitarrensaite vergleichbar: Ist sie zu schlaff, tönt sie nicht, ist sie zu straff gespannt, reißt sie. Nur in der rechten Spannung entsteht ein wunderbarer Ton. Genauso besteht zwischen der aufrechten Sitzhaltung und der inneren Geisteshaltung eine starke Wechselwirkung. Unser innerer Ton entsteht durch den Körpergeist/Geistkörper, der durch unsere Konzentrationsbemühung das Gedankenkarussell nach und nach einstellt und sich in der Stille einschwingt.
Wenn wir versuchen, uns zu konzentrieren, beeinflusst uns alles, was rundherum passiert. Wenn alle Anwesenden sich an die gleichen Verhaltensregeln halten, ist es nicht nötig, sich Gedanken zu machen, wie zum Beispiel: „Soll ich mich jetzt verbeugen?“ Oder: „Warum geht der eine langsam und die andere schnell?“ Oder: „Gehe ich quer durch den Raum oder soll ich lieber die Matten entlanggehen?“ Im Alltagsleben sind wir jede Minute mit Eindrücken konfrontiert. Wir sehen die Menschen in der Straße, die Werbung auf einem Plakat, die Bewegung der Autos. All dies produziert Eindrücke, die wir andauernd wahrnehmen, bewerten und verarbeiten müssen.
Auch wenn wir als Gruppe mit Menschen zusammensitzen, sehen wir das Verhalten der anderen und können gar nicht umhin, dieses – so wie im Alltagsleben – in Form von Eindrücken wahrzunehmen, zu bewerten und zu verarbeiten. Je klarer die Verhaltensregeln im Meditationsraum und während eines Sesshins sind, desto einheitlicher ist das, was alle tun. So wird die Arbeit der dauernden Informationsaufnahme zur Ruhe gebracht. Die ‚Form‘ ermöglicht es, sich in der Stille auf nur ein Ding zu konzentrieren, nämlich auf die Meditationsübung.
Klarheit
Aus der konzentrierten Form aller Teilnehmer der Zen Meditation entsteht eine Form der Gesamtheit. Die Bewegungen jedes Einzelnen reduzieren sich in der längeren Übungsperiode nach und nach auf das Notwendige. Es ertönt das Klangsignal und alle setzen sich. Ohne hin und her zu schauen, ohne diese und jene Falte noch einmal und noch einmal zu richten. Aus der Reduktion der Ablenkungen entsteht ein klarer Raum. Diese Klarheit nimmt während eines Sesshins von Tag zu Tag zu. Die innere Klarheit, die mit der Beruhigung der Gedanken von Stunde zu Stunde mehr wird, spiegelt sich in der zunehmenden Klarheit der äußeren Form wider.
Jeder Tag eines Sesshins beginnt mit der Teezeremonie, einer besonderen Übung der Achtsamkeit. Die ersten zwei Tage herrscht noch viel Unruhe im Raum. Jeder Teilnehmer ist mit sich selbst, mit seinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt. Von Tag zu Tag werden diese (auf sich selbst) begrenzten Gedanken weniger. Der innere Raum öffnet sich, sie nehmen die anderen Menschen stärker wahr und die Gesamtheit des Geschehens auf. Sie werden eins mit dem Rhythmus der Handbewegungen, des Einschenkens. Ein Ton der Stille entsteht im äußeren Raum.
Sicherheit
Die Abläufe wiederholen sich, das Programm eines Sesshins bleibt zu 90% von Tag zu Tag gleich. Die Teilnehmer müssen sich nicht mehr damit beschäftigen, um WIE VIEL Uhr WAS geschieht. Das Essen ist zur gleichen Zeit. Der Beginn des Zazen bleibt immer gleich. Ein Rhythmus entsteht. Sie fühlen sich in diesem Rhythmus geborgen. Sie wissen, dass die Jikijitsu, die oder der Verantwortliche im Zendo, alle 25 Minuten – je nach Gruppierung auch alle 40 oder 50 Minuten – die Runde ausläutet. Sie kennen den Rhythmus, sie kennen die Form. Die Gedanken, WIE etwas zu tun ist, werden weniger. Die Form gibt Sicherheit. Es ist möglich, sich in die Form ‚fallen zu lassen‘, sich sicher zu fühlen.
Durch die körperliche/geistige Erfahrung entwickeln viele Neulinge in der Zen Meditation im Laufe eines Sesshins allmählich ein Verständnis für die praktischen Aspekte der Form. Sie erfahren, dass die Spannung nach einer Woche Meditation tatsächlich nachgelassen hat, und sie begreifen, dass es nicht um ein Hin und Her zwischen Verspannung (im Arbeitsleben) und Entspannung (Freizeit) geht, sondern darum, sowohl in der Arbeit als auch in der Freizeit in der rechten Spannung zu bleiben, ihr Leben zum ‚Klingen‘ zu bringen, so wie die Saite eines Musikinstruments nur in der rechten Spannung richtig klingt. Nach einigen Jahren der Zen-Praxis bemerken viele Meditierende, dass es erst die Form ist, die es ihnen ermöglicht, die Form zu überwinden.
Der chinesische Zen-Meister Mazu Daoyi (jap.: Baso Doitsu) hat es vor 1.200 Jahren so formuliert: „In die Form hineingehen, aus der Form herausgehen – und Freiheit erlangen.“
Fleur Sakura Wöss
Der Originaltext erschien in Ursache & Wirkung am 21. März 2017.